Lena Petri

Erkenntnis, Gewissheit und Rechtfertigung

Strafprozessuale Tatsachenfeststellung als Vergleichsgegenstand

Die Wahrheitsfindung und ihre Stellung im Strafprozess sind im deutschen und US-amerikanischen Rechtsraum Themen, die für Praktiker und für Rechtstheoretiker von höchster Bedeutung sind. Genau daraus ergibt sich einerseits eine teils unübersichtliche Materialfülle, andererseits Präzisierungsbedarf für die Rechtsvergleichung. Zwischen den Rechtskulturen bestehen gerade im Bereich des Strafprozesses trotz offensichtlicher Regelungskonvergenzen weiterhin Missverständnisse, die zum Teil auf unterschiedliche implizite Grundwertungen zurückzuführen sind.

Deshalb beabsichtigt diese Arbeit, analytisch zwischen der Wahrheit in der Tatsachenfeststellung, der Methodik zur Tatsachenfestellung und der rechtspolitischen Rolle der Tatsachenfestellung im Strafprozess zu trennen. Diese Ebenen beeinflussen einander in der unsystematischen Rechtspraxis natürlich; trotzdem ist aus einer solchen wertevergleichenden Präzisierung ein nützlicher Beitrag zur Rechstvergleichung zu erwarten, da der Vergleich einzelner Regelungen nur unter möglichst konkreter Berücksichtigung des rechtstheoretischen und rechtspolitischen Kontextes einzelner Rechtsordnungen stattfinden kann.

Die Grundfrage dieser Arbeit lautet, ob wesentliche Unterschiede in der strafprozessualen Tatsachenfestellung zwischen den beiden Systemen auf unterschiedliche Auffassungen des Grundwertes der Wahrheitsfindung zurückzuführen sind, oder eher auf unterschiedliche Auffassungen der Rolle dieses Grundwertes im rechtspolitischen Projekt des Strafrechts.

In beiden Systemen gilt im formellen Strafprozess die möglichst zweifelsfreie Feststellung relevant erachteter Tatsachen als grundsätzliche Vorbedingung für einen akzeptablen Schuldspruch. Die beiden Systeme unterscheiden sich allerdings stark in ihren Prozessen und Strategien, um diese Tatsachenfeststellung möglichst so zu gestalten, dass sie unabhängig von Identität und Interessenlage der beteiligten Individuen in jedem beliebigen Prozess zu glaubwürdigen Resultaten führt. In den USA wird darauf gesetzt, dass der geregelte Wettkampf zwischen Anklage und Verteidigung mögliche Zweifel aufzeigt und ausräumt. In Deutschland hingegen wird der Richter als neutraler Dritter eingesetzt, um die Untersuchung der Tatsachenlage solange fortzuführen, bis ausreichende Sicherheit besteht. Diese unterschiedlichen institutionellen Erkenntnisstrategien lassen sich als zwei prinzipiell zielführende Methoden innerhalb einer gemeinsamen, rationalistisch-empirisch geprägten philosophischen Tradition verstehen.

Allerdings ist es sinnvoll, die unterschiedliche Methodenwahl als Ausdruck zweier deutlich verschiedener Auffassungen der wünschenswerten Orientierung des Strafrechts zur politischen Ordnung zu sehen. Demnach positioniert sich der US-amerikanische Strafprozess innerhalb der für das politische System der USA typischen Spannung zwischen dem Willen der Mehrheit und der Freiheit des Einzelnen. Daraus ergibt sich, dass im US-amerikanischen Strafprozess häufig eine von Deutschen als unangebrachte Abkürzung oder Umgehung der formellen Tatsachenfeststellung durch Ermessen der Entscheidungsträger oder Zustimmung des Angeklagten gerechtfertigt wird. In Deutschland existieren hingegen Systemmerkmale, die konzipiert sind, den Strafprozesses von direkter politischer Einflussnahme zu isolieren und ungesteuerte Ermessensspielräume zumindest idealerweise zu vermeiden. Hier wird das Gericht, v.a. in der Person des Richters, als Garant der Gerechtigkeit sowohl für den Einzelnen als auch für die Allgemeinheit durch die neutrale Anwendung des Gesetzes verstanden. In diesem Kontext steht die Verantwortung für die vollständige Tatsachenermittlung deutlich weniger zur Disposition der Prozessbeteiligten als in den USA.

Lena Petri
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Lena Petri wurde in Starnberg in Deutschland geboren. Sie erwarb den „Bachelor of Arts“ in Politikwissenschaften und Geschichte am Swarthmore College in Pennsylvania, USA. Danach absolvierte sie eine juristische Ausbildung an der Harvard Law School in Massachusetts, die sie im März 2010 mit dem Erwerb des Titels „Juris Doctor“ (J.D.) abschloss.

Während ihres Studiums absolvierte Lena Petri Praktika an dem von der UN geförderten Judicial System Monitoring Program in Osttimor und bei der Staatsanwaltschaft am Middlesex County District Attorney’s Office in Boston. Studienbegleitend arbeitete sie für die Strategic Litigation Section des Massachusetts Committee for Public Counsel Services (Rechtsbeistand für Bedürftige) an Fallentwicklungen zu Rechtsbildungszwecken. Sie legte 2010 in San Diego, Kalifornien, ihre Zulassungsprüfung (Bar Exam) zur Rechtsanwältin ab und arbeitete als Strafverteidigerin am San Diego Public Defender’s Office, bis sie im Mai 2011 als Doktorandin in die Research School aufgenommen wurde.