Forschungsprogramm „Grenzen des Strafrechts“

Das am Max-Planck-Institut durchgeführte Forschungsprogramm zu den „Grenzen des Strafrechts“ bindet die Einzelprojekte der IMPRS-CC ein. Von dieser Einbindung profitieren sowohl die geförderten Doktoranden wie auch das Forschungsprogramm. Die Doktoranden leisten mit ihren Untersuchungen einen Beitrag für die Theoriebildung zu den Grenzen des Strafrechts und zur Strafrechtsvergleichung. Sie erhalten auf diese Weise Einblicke in den theoretischen Gesamtzusammenhang.

Forschungsgegenstand

Gegenstand des Forschungsprogramms sind die sich verändernden Grenzen des Strafrechts. Die aktuelle Verschiebung dieser Grenzen wird an den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen der Welt-, Informations- und Risikogesellschaft deutlich, die zu einem rasanten Wandel in der Kriminalität, Kriminalpolitik und Strafrecht führen. Das Ausmaß der gegenwärtigen Veränderungen zeigt sich im Hinblick auf die territorialen Grenzen des Strafrechts beispielsweise im Europäischen Strafrecht, im Völkerstrafrecht und in den sicherheitsrechtlichen Agenden verschiedener internationaler Organisationen, z.B. an der Entstehung von Elementen eines echten supranationalen Strafrechts, an neuen Formen der internationalen Zusammenarbeit und an neuen Konzepten der internationalen Sicherheitspolitik. Bei der Kontrolle des Terrorismus manifestieren sich ebenso weitreichende Veränderungen, die das fundamentale Verhältnis zwischen den Garantien von Sicherheit und Freiheit in Bewegung bringen und klassische politische und rechtliche Kategorien, wie die Unterscheidung von innerer und äußerer Sicherheit, von Krieg und Verbrechen, von Krieg und Frieden sowie von Strafjustiz, Polizei, Geheimdienst und Militär, auflösen.

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Forschungsziel

Ziel des Forschungsprogramms ist es, die Grenzen des Strafrechts im Hinblick auf die tatsächlichen Veränderungen von Sicherheitsrisiken und Sicherheitswahrnehmung in der sich wandelnden Gesellschaft sowie die hieraus resultierenden normativen Veränderungen zu analysieren, um neue Antworten auf die entstehenden kriminalpolitischen Herausforderungen für eine effektive, jedoch den Menschenrechten verpflichtete Kriminalitätskontrolle zu entwickeln. Im Mittelpunkt des Interesses stehen dabei zwei miteinander zusammenhängende und für die gegenwärtige Strafrechtsentwicklung fundamentale faktische Prozesse: a) die mit der Globalisierung zunehmende Transnationalisierung der Kriminalität sowie b) die mit der Risiko- und Informationsgesellschaft einhergehende Veränderung der Risiken und der Risikowahrnehmung von komplexen Kriminalitätsformen, insbesondere im Zusammenhang mit Terrorismus, Organisierter Kriminalität, Korruption, Wirtschaftskriminalität und Cybercrime. Diese beiden Veränderungen führen das klassische Strafrecht an seine territorialen bzw. funktionalen Grenzen und verändern es in gravierender Weise. Sie bilden deswegen auch die zentralen Forschungsschwerpunkte des Programms, die von einem dritten Schwerpunkt zur zentralen Forschungsmethode der Arbeiten ergänzt werden.

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Forschungsmethoden

Das Forschungsprogramm untersucht die gesellschaftlichen wie die normativen Bedingungen seines Forschungsgegenstands. Deswegen finden sowohl die empirischen Erhebungsmethoden der Sozialwissenschaften als auch die Methoden der – insbesondere vergleichenden – Strafrechtswissenschaft Anwendung.
Die Analysemethoden der Sozialwissenschaften betreffen vor allem kriminologische Fragestellungen. Empirische Untersuchungen zu strafrechtlichen Fragestellungen betreffen dabei vorwiegend die Veränderungen der Kriminalitätsphänomene, der strafprozessualen Ermittlungsprobleme (insb. im digitalen Bereich) sowie der praktischen Anwendung neuer nicht strafrechtlicher Aufklärungs- und Sanktionssysteme (z.B. die Rechtswirklichkeit von Compliance-Programmen). Aufgrund der Verschränkung von empirischen und normativen Zugängen ist die Forschung grund­sätzlich interdisziplinär angelegt.
Für die Lösung der zentralen normativen Fragen hat die Strafrechtsvergleichung zusammen mit der von ihr mitbestimmten internationalen Strafrechtsdogmatik zentrale Bedeutung. Zur Erfassung der gegenwärtigen Rechtsentwicklung ist häufig eine breit angelegte Strafrechtsvergleichung erforderlich, da aufgrund der globalen Prozesse in der aktuellen Kriminal- und Rechtspolitik ein normatives Gesamtbild der aktuellen weltweiten Entwicklungen und ihrer Zusammenhänge erforderlich ist, auch um lokale und regionale Entwicklungen zu verstehen. In den einzelnen Untersuchungen ist dabei für die Analyse des geltenden Rechts oft eine systematische und/oder fallbasierte Strafrechtsvergleichung notwendig, die im Wege der wertbasierten Strafrechtsvergleichung auch auf die den Regelungen zugrunde liegenden sozialen und rechtlichen Grundlagen eingeht. Auf dieser vergleichenden Basis können dann auch allgemeine Rechtsgrundsätze entwickelt werden, die mit Hilfe der wertenden Rechtsvergleichung Lücken im Europäischen Recht und im Völkerstrafrecht schließen. Unter praktischen Gesichtspunkten unterstützt die wertende Rechtsvergleichung darüber hinaus vor allem die vergleichende Bestimmung von „best practices“ im Wege des „benchmark­ing“, die für die zukünftige nationale und internationale Kriminalpolitik besonders wichtig ist.

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Forschungsschwerpunkte

Aus dem genannten Konzept zur Untersuchung der aktuellen Veränderungen von Kriminalität und Kriminalitätskontrolle ergeben sich zwei – inhaltlich zusammenhängende – thematische Schwerpunkte des Forschungsprogramms zu den territorialen und funktionalen Grenzen des Strafrechts. Hinzu kommt ein dritter methodenorientierter Schwerpunkt zur Strafrechtsvergleichung. Die Analyse des Wandels (insb. durch Globalisierung, Informationsgesellschaft und Risikogesellschaft) erfolgt damit sowohl für den eigentlichen Sachgegenstand als auch im Hinblick auf die entsprechenden methodischen Forschungszugänge.

Grenzüberschreitende Kriminalität, territoriale Grenzen des Strafrechts und internationale Strafrechtsintegration

Der erste Forschungsschwerpunkt knüpft an die Veränderungen durch die Globalisierung an. Dabei geht es vor allem um die territorialen Grenzen des Strafrechts und die Möglichkeiten ihrer Überwindung durch ein transnational wirksames Strafrecht. Dieser Forschungsschwerpunkt zielt auf eine Theorie der Strafrechtsintegration in der globalen Welt und die Entwicklung entsprechender praxis­tauglicher Lösungskonzepte. Ihm liegt die – in der ausführlichen Fassung des Forschungsprogramms näher begründete – Annahme zugrunde, dass die zunehmende transnationale Kriminalität vor allem auf technischen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen der Globalisierung beruht, aus denen sich neue Gelegenheiten zur grenzüberschreitenden Deliktsbegehung ergeben, z.B. in internationalen Datennetzen und globalen illegalen Märkten (z.B. für Drogen, Waffen oder sensiblen Daten). Diese neuen Möglichkeiten transnationaler Kriminalität fordern das nationalstaatliche Strafrecht heraus, da dieses nur schwer gegen grenzüberschreitende Kriminalität vorgehen kann, wenn die Durchsetzung seiner Entscheidungen auf anderen Territorien erst langwierige Amts- oder Rechtshilfeverfahren benötigt und die nationalen Strafrechtsordnungen voneinander abweichen.
Als Antwort auf die neuen Herausforderungen ist daher nicht nur eine verstärkte Rechtsharmonisierung erforderlich. Vielmehr sind neue Systeme eines transnational wirksamen Strafrechts gefragt, mit denen – wie beispielsweise im Europäischen Strafrecht – die klassischen Modelle der zwischenstaatlichen Kooperation und des supranationalen Strafrechts zu hybriden Mischformen und komplexen Mehr­ebenensystemen der strafrechtlichen Sozialkontrolle weiterentwickelt werden. Der Forschungsschwerpunkt zielt vor allem auf die Fragen, ob und wie die territorialen Grenzen des Strafrechts zu überwinden sind, wie die dabei entstehenden Regelungen aussehen und wie sie sich auf den Ausgleich von Sicherheits- und Freiheitsinteressen auswirken. Dieser Schwer­punkt betrifft daher insbesondere neue Formen der internationalen Rechtshilfe, die Entwicklung von supranationalem Strafrecht sowie neue Formen der internationalen Strafrechtskoordination durch internationale Institutionen (wie EU, UN oder FATF).

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Komplexe Kriminalität, funktionale Grenzen des Strafrechts und neue alternative Maßnahmen der Sozialkontrolle

Der zweite Forschungsschwerpunkt der strafrechtlichen Abteilung betrifft die fundamentalen Veränderungen der Risiko- und Informationsgesellschaft. Dabei geht es um die funktionalen Grenzen des Strafrechts und die Möglichkeiten neuer alternativer Maßnahmen der Sozialkontrolle, die zu einer Theorie der funktionalen Grenzen des Strafrechts führen sollen. Diesem Forschungsschwerpunkt liegt die Annahme zugrunde, dass nicht nur die Transnationalisierung und Globalisierung, sondern vor allem der technische, wirtschaftliche und politische Wandel der Informations- und der Risikogesellschaft gesteigerte Risiken für die Gesellschaft und eine immer komplexere Kriminalität produziert, deren Erfassung durch das klassische „Standardprogramm“ des Strafrechts auf Schwierigkeiten stoßen.

Dies zeigt sich beispielsweise am international arbeitsteiligen Vorgehen weitverzweigter Straftätergruppen, die sich moderner Technologien bedienen, sowie am Zerstörungs- und Schadenspotenzial neuer Formen des Terrorismus, der Organisierten Kriminalität, der Korruption, der Wirtschafts- und der Internetkriminalität.

Die Praxis versucht den damit einhergehenden Kontrollverlust des klassischen nationalstaatlichen Strafrechts durch spezifische Veränderungen zu kompensieren: Es entstehen neue Netzwerke zwischenstaatlicher Zusammenarbeit, geheime technische Überwachungsmaßnahmen, ein am Präventionsgedanken orientiertes neues „Sicherheitsrecht“ unter Einbeziehung polizeirechtlicher, geheimdienstrechtlicher, ausländerrechtlicher und kriegsrechtlicher Maßnahmen (innerhalb und außerhalb des Strafrechts), Mitwirkungspflichten Privater sowie alternative Maßnahmen der Sozialkontrolle (z.B. im Wege der „regulierten Selbstregulierung“ der Wirtschaft). Dieser – auch auf einer veränderten Wahrnehmung von Kriminalität beruhende – Wandel wird in Gesellschaft und Politik mit kriminalpolitischen Sicherheitsdiskursen zu Grenzverschiebungen des Strafrechts legi­timiert.

Der Forschungsschwerpunkt zielt damit vor allem auf die Fragen, wie sich das Strafrecht aufgrund der vorgenannten Veränderungen entwickelt, inwieweit die damit herausgeforderten klassischen Grenzen des Strafrechts beizubehalten oder neu zu vermessen sind und wie die gegenwärtig zu beobachtende „Ersetzung“ des Strafrechts durch andere Rechtsdisziplinen (insb. Kriegsrecht, Polizeirecht, Geheimdienstrecht, Ausländerrecht) zu beurteilen ist.

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Strafrechtsvergleichung als Forschungsgegenstand und dritter methodenspezifischer Forschungsschwerpunkt

Der dritte Schwerpunkt zielt auf die Entwicklung der Forschungsmethoden, die zur Analyse der vorgenannten Schwerpunkte erforderlich sind. Strafrechtsvergleichung ist deswegen im Programm der strafrechtlichen Abteilung aufgrund ihrer Bedeutung für die Arbeiten zu den territorialen und funktionalen Grenzen des Strafrechts nicht nur eine Methode, sondern selbst ein zentraler Forschungsgegenstand. Dabei geht es nicht mehr nur um die klassische (horizontale) Vergleichung von nationalen Rechtsordnungen, sondern zunehmend auch um die (vertikale) Vergleichung von internationalen und nationalen Normensystemen sowie die (funktionale) Vergleichung unterschiedlicher Rechtsregime (z.B. Strafrecht, Polizeirecht, Geheimdienstrecht und das Recht der bewaffneten Konflikte) bei der Kriminalitätskontrolle. Um die Voraussetzungen, Methoden und Leistungsfähigkeit der Strafrechtsvergleichung in ein Gesamtkonzept zu bringen und dieses innovativ weiterzuentwickeln, betrifft der dritte – methoden­orientierte – Schwerpunkt des Programms die Grundlagen der Strafrechtsvergleichung.

Auf dieser Grundlage soll auch eine universale Strafrechtsdogmatik entwickelt werden. Diese muss wegen der globalen Herausforderungen des Strafrechts auf die Gewinnung von weltweit gültigen Erkenntnissen zielen, die insbesondere in eine „internationale Strafrechtsdogmatik“, eine „internationale Grammatik des Strafrechts“ und – in der Europäischen Union – ein „gemeineuropäisches Strafrechtssystem“ münden.

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Forschungskonzentration auf spezielle Forschungsfelder

Die Forschung zu einem gemeinsamen Programm unterscheidet sich von der Arbeit eines einzelnen Wissenschaftlers vor allem durch die Vielzahl seiner Einzelprojekte. Entscheidende Bedeutung für die Umsetzung des Programms haben daher neben der Bestimmung der Fragestellungen und der Forschungsschwerpunkte vor allem auch Auswahl, Konzentration und Abstimmung der dem Forschungsziel dienenden Projekte. Diese werden deswegen in dem vorliegenden Programm so ausgewählt, dass sie nicht nur aussagefähige Ergebnisse zu den einzelnen Forschungsfragen erbringen, sondern ihre Erträge in der Addition die Summe der Einzelergebnisse aus den verschiedenen Projekten übersteigen. Nur auf diese Weise kann ein Mehrwert für eine übergreifende Theoriebildung zu den zentralen Forschungsfragen der territorialen und funktionalen Grenzen des Strafrechts und der Strafrechtsvergleichung entstehen.

Diese Zielsetzung und die angestrebten Synergieeffekte werden in dem vorliegenden Programm vor allem dadurch erreicht, dass sich die Projekte auf bestimmte Forschungsfelder konzentrieren, in denen die oben genannten Forschungsfragen zu den territorialen und funktionalen Grenzen des Strafrechts besonders deutlich zutage treten. Ähnlich wie das Forschungsziel mit Hilfe von Hypothesen im Hinblick auf relevante Schwerpunkte und Fragen spezifiziert wird, wird auch der Forschungsgegenstand des Programms auf besonders erfolgversprechende Felder fokussiert.

Für die Theoriebildung zu den territorialen Grenzen des Strafrechts und der Strafrechtsintegration werden vor allem Rechtssysteme untersucht, die verschiedene nationale Strafrechtsordnungen integrieren und dadurch ein transnational durchsetzbares Strafrecht schaffen. Die einschlägigen Projekte zu den territorialen Grenzen des Strafrechts betreffen deswegen neben den – fächerübergreifenden – „Grundlagen zur rechtlichen Ordnung in einer globalen Welt“ sowie den nationalen Rechtsordnungen vor allem die Forschungsfelder „Europäisches Strafrecht“ und „Internationales Strafrecht (insbesondere Völkerstrafrecht)“. Im Einzelfall einbezogen werden dabei aber auch strafrechtlich relevante Regelungen von anderen internationalen Organisationen, wie z.B. der UN, der FATF oder der OECD.

Für die Theoriebildung zu den funktionalen Grenzen des Strafrechts sind dagegen Problemstellungen von Interesse, deren Risikopotenzial oder Komplexität das der klassischen Kriminalität übersteigt. Diese Probleme finden sich insbesondere in den Forschungsfeldern „Terrorismus“, „Organisierte Kriminalität“, „Internetkriminalität“ und „Wirtschaftskriminalität“. Die Auswahl dieser Delinquenzbereiche erfolgt dabei funktional unter dem Aspekt der übergeordneten Forschungsfrage, sodass bei der Organisierten Kriminalität im Hinblick auf entsprechende Fragestellungen auch Völkerstraftaten und Staatskriminalität sowie andere Formen der komplexen Kriminalität wie die Korruption einbezogen werden können. Da die vorgenannten Delikte zum großen Teil in globalen Märkten oder grenzüberschreitender Weise erfolgen, stehen sie auch im Mittelpunkt der Harmonisierungsbestrebungen internationaler Institutionen. Damit sind diese Delikte und ihre Kontrolle auch für den ersten Forschungsschwerpunkt zu den territorialen Grenzen des Strafrechts relevant. Insoweit bestehen auch enge Zusammenhänge zwischen den beiden Schwerpunkten.

Aus den vorgenannten Gründen sind diese Delikte auch für den dritten methodenorientierten Schwerpunkt besonders interessant. Die Grundlagen zur Strafrechtsvergleichung werden deswegen zu einem großen Teil in den gleichen Forschungsfeldern untersucht. Für die Strafrechtsvergleichung sind darüber hinaus der Allgemeine Teil des Strafrechts sowie das Strafverfahrensrecht von Bedeutung. Die Projekte in den vorgenannten Feldern betreffen deswegen häufig – gezielt – mehrere Forschungsfragen und -schwerpunkte und profitieren dadurch in vielfältiger Weise sowohl thematisch als auch methodisch von den Ergebnissen anderer Arbeiten.

Die Skizze verdeutlicht diesen theoriegeleiteten Prozess der Auswahl und Konzentration der Projekte, die sowohl durch die zentralen Forschungsfragen als auch durch den – für die Analyse relevanten – spezifischen Forschungsgegenstand bestimmt werden.

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