Maria Tsilimpari
Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe im deutschen und englischen Recht am Beispiel von Notwehr und Notstand
Notwehr und Notstand stehen im Mittelpunkt der Vorschriften, die die Strafbarkeit einer Tat im Interesse von Einzelfallgerechtigkeit ausnahmsweise ausschließen. Für die Rechtssicherheit ergeben sich daraus aber erhebliche Herausforderungen. Letzteren soll in Deutschland durch eine klare Kategorisierung dieser Rechte in Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe begegnet werden. Notwehr und Notstand werden als allgemeine Rechte anerkannt und im Gesetz einheitlich geregelt. Dadurch werden die Auswirkungen sowohl auf die Strafbarkeit des Täters als auch im Rahmen der Beteiligungslehre von vornherein klargestellt. Im englischen Recht werden dagegen Notwehr und Notstand als Verteidigungseinreden (defences) nur sehr wenig systematisiert. Entsprechende Regelungen finden sich verstreut sowohl in zahlreichen Gesetzen als auch im Richterrecht. Ihre Annahme führt zu einem nicht weiter qualifizierten Freispruch des Angeklagten. Insbesondere angesichts der in der deutschen Dogmatik wieder vermehrt diskutierten Unterscheidung von Unrecht und Schuld verdient das Fehlen einer solchen Differenzierung in England besondere Beachtung.
Die Dissertation untersucht die Grundlagen, Systematik und Ausgestaltung der Notwehr und des Notstands als Strafausschließungsgründe im deutschen und englischen Recht. Die Lehre und der Gesetzgeber haben in England jüngst versucht, die inhärenten Defizite des common law- Systems in Bezug auf Notwehr und Notstand zu bewältigen. Der Criminal Justice and Immigration Act 2008 und der Crime and Courts Act 2013 haben es jedoch nicht geschafft, Klarheit in die Notwehrregelung zu bringen. Durch die Verschmelzung des allgemeinen Notstands mit dem Nötigungsnotstand wurde die Rechtslage in den vergangenen Jahren sogar noch verkompliziert. Das englische Recht verschiebt auf diese Weise verstärkt die Problemlösung reaktiv auf die Verfahrensebene (Opportunitätsprinzip, absolute discharge).
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage, ob es in England insbesondere trotz der fehlenden Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung zu ähnlichen Ergebnissen wie im deutschen Recht kommt. Zu vermuten ist, dass die fehlende dogmatische Differenziertheit sich in England sowohl auf die Rechtssicherheit als auch auf die Einzelfallgerechtigkeit negativ auswirkt. Durch die Bildung zweier prima facie sehr unterschiedlicher Modelle für den Ausschluss der Strafbarkeit soll herausgearbeitet werden, inwieweit sich Reformimpulse für das jeweils andere Rechtssystem identifizieren lassen. Die Untersuchung soll die neueren Entwicklungen des englischen Rechts sowohl für die deutsche Diskussion als auch im Hinblick auf den Prozess einer zunehmenden europäischen Harmonisierung des Strafrechts fruchtbar machen. Für das deutsche Recht steht dabei insbesondere eine stärkere Konkretisierung der Merkmale der „Gebotenheit“ bei der Notwehr sowie der „Angemessenheit“ beim Notstand im Vordergrund.
Methodisch wird die Untersuchung mittels einer funktionalen Rechtsvergleichung vorgenommen. Die Rechtslage wird in zwei Landesberichten im Wege der Gesetzesauslegung wie auch der Rechtsprechungs- und Literaturanalyse ermittelt. Die Rechtsprechungsanalyse ist insbesondere bei dem Landesbericht England aufgrund der dort herrschenden Rolle der Rechtsprechung als Quelle des materiellen Strafrechts von großer Bedeutung. In den Landesberichten werden Notwehr und Notstand nach einer Einführung in die Strafausschließungsgründe detailliert analysiert. Anschließend werden die theoretischen Grundlagen, die Struktur und die Wirkung der Notwehr und des Notstands als Strafausschließungsgründe verglichen. Auf dieser Grundlage werden die herausgearbeiteten Unterschiede im Hinblick auf Rechtssicherheitsanforderungen und Einzelfallgerechtigkeit bewertet.
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Einordnung Forschungsprogramm
- Forschungsschwerpunkte: Funktionale Grenzen
- Relevante Rechtsordnungen: Nationales Strafrecht
- Relevante Delinquenzbereiche: Andere Formen komplexer Kriminalität
mail: | m.tsilimpari@mpicc.de |
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tel: | +49 (761) 7081-327 |
Maria Tsilimpari wurde in Athen, Griechenland, geboren. Von 2002 bis 2007 studierte sie Rechtswissenschaften an der Nationalen Kapodistrias Universität Athen. Das Referendariat absolvierte sie von 2007 bis 2009. Seit September 2009 ist Maria Tsilimpari als Rechtsanwältin in Athen zugelassen. Im Februar 2014 schloss sie ihr Masterstudium an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mit dem Erwerb des „Magister Legum“ (LL.M) ab.
Studienbegleitend war Maria Tsilimpari von Juni 2012 bis Februar 2014 als studentische Mitarbeiterin bei Prof. Dr. Ulrich Sieber am Max- Planck Institut für ausländisches und internationales Strafrecht tätig.
Die Aufnahme in die Research School erfolgte im August 2014.
Dissertationsbetreuer:
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ulrich Sieber